Über das Betragen in Gesellschaft betrunkener Leute.

Ich komme jetzt zu dem Umgange mit betrunkenen Leuten. Der Wein erfreut des Menschen Herz, und wenn man dies Vehiculum nicht als ein notwendiges Bedürfnis, ohne welches man durchaus nicht in frohe Laune zu setzen ist, sondern als ein Erweckungsmittel braucht, um in trüben Augenblicken den natürlichen guten Humor, der nie ganz aus dem Gemüte eines ehrlichen Biedermanns weichen darf, unter dem Schutte von häuslichen Sorgen hervorzurufen, so habe ich nichts dagegen einzuwenden, sondern gestehe vielmehr, daß ich selbst die wohltätige Wirkung dieser herrlichen Arzenei aus dankbarer Erfahrung kenne. Allein kein Anblick ist so widrig für den verständigen Mann als der eines Menschen, welcher sich durch starke Getränke um Sinne und Vernunft gebracht hat. Wenn dies auch nicht der Fall ist, so bleibt es schon unangenehm, der einzige ganz Kaltblütige in einer Gesellschaft von Leuten zu sein, die sich durch ein Gläschen über die Gebühr um einen Ton höher gestimmt haben; und wenn man den Tag mit ernsthaften Geschäften hingebracht hat und dann von ungefähr des Abends in einen Zirkel solcher muntrer Gäste gerät, so ist fast kein anders Mittel zu finden (oder man müßte denn von Natur immer zum Scherze aufgelegt sein), als ein wenig mitzuzechen, um sich denselben Schwung zu geben.

Die Wirkungen des Weins auf die Gemüter der Menschen sind aber nach ihren natürlichen Temperamenten sehr verschieden. Manche zeigen sich äußerst lustig; andre sehr zärtlich, wohlwollend und offenherzig. Andre melancholisch, schläfrig, verschlossen; andre hingegen geschwätzig und noch andre zänkisch, wenn sie berauscht sind. Man tut wohl, der Gelegenheit auszuweichen, mit Betrunknen von dieser letztern Art in Gesellschaft zu geraten. Ist dies aber nicht zu vermeiden, so kann man doch darin mehrenteils mit einem vorsichtigen, nachgebenden und höflichen Betragen und dadurch, daß man ihnen nicht widerspricht, so ziemlich gut fortkommen. Daß man auf das, was ein Mensch im Rausche verspricht, nicht bauen dürfe; daß man sich doppelt ernstlich hüten müsse, eine Ausschweifung im Trunke zu begehn, wenn man weiß, daß man einen bösen Rausch hat; daß es unedel gehandelt sei, diesen schwachen Zustand eines Menschen zu nützen, um ihm Zusagen oder Geheimnisse zu entlocken, und endlich, daß man mit Leuten, die zu tief in die Flasche geschaut haben, keine ernsthaften Sachen verhandeln müsse - das versteht sich wohl von selber.

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Über den Umgang mit Menschen


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Zweites Buch
Zwölftes Kapitel: Über das Betragen bei verschiedenen Vorfällen im menschlichen Leben.
2) Auf Reisen. Einige Regeln, um bequem, angenehm, wohlfeil und nützlich zu reisen.


1) In eigenen und fremden Gefahren.
3) Über das Betragen in Gesellschaft betrunkener Leute.
4) Regeln beim Ratgeben und Ratfragen.
5) Bei feierlichen Gelegenheiten.
6) Beim Tanze.

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