11) Schmeichelei muß unter Freunden wegfallen, nicht aber Gefälligkeit. Man muß den Mut haben, Wahrheit zu sagen und anzuhören.

Jede Art von schädlicher Schmeichelei muß im Umgange unter echten Freunden wegfallen, nicht aber eine gewisse Gefälligkeit, die das Leben süß macht, Nachgiebigkeit und Geschmeidigkeit in unschuldigen Dingen. Es gibt Menschen, deren Zuneigung man augenblicklich verloren hat, sobald man aufhört, ihnen Weihrauch zu streun, sobald man nicht in allen Dingen einerlei Meinung mit ihnen ist, einerlei Geschmack mit ihnen hat. In ihrer Gegenwart darf man den größten Vorzügen andrer Leute ja nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen. Gewisse Saiten kann man gar nicht berühren, ohne sie aufzubringen. Haben sie eine Torheit begangen; sind sie blindlings eingenommen für oder gegen eine Sache, für oder gegen eine Person; werden sie von Phantasie oder Leidenschaft irregeleitet; haben sie unanständige oder schädliche Gewohnheiten an sich; findet man in ihrer Art zu leben und zu wirtschaften etwas mit Grunde auszusetzen und man untersteht sich, hierüber etwas zu sagen, so schlägt das Feuer allerorten heraus. Andre werden hierdurch nicht sowohl beleidigt als gekränkt. Sie sind gewöhnt, sich so zu verzärteln, daß sie die Stimme der Wahrheit gar nicht hören können. Man soll nur von solchen Dingen mit ihnen reden, die ihren faulen Seelenschlummer befördern. - »Wenn ich Dich bitten darf«, sagen sie, »so laß uns davon abbrechen. Das sind Gegenstände, die ich nicht gern in mein Gedächtnis zurückrufe. Es ist nun einmal nicht anders; ich weiß wohl, daß ich unrecht habe, daß ich vielleicht anders handeln sollte; aber es würde einen zu schweren Kampf kosten - meine Gesundheit, meine Ruhe, meine schwachen Nerven vertragen es nicht, daß ich ernstlich darüber nachsinne.« - Pfui, ein Mensch von festem Charakter, und der ernstlich das Gute liebt und sucht, muß den Mut haben, bei jedem Gegenstande mit reifer Überlegung verweilen zu können. - Alle solche weichgekochten Seelen taugen nicht zur Freundschaft. Man muß das Herz haben, Wahrheit zu sagen und Wahrheit anzuhören, auch dann, wenn diese Wahrheit hart ist und unser Innerstes erschüttert. Der Freibrief eines Freundes, dem andern die Wahrheit nicht zu verhehlen, berechtigt ihn aber nicht, dies mit Grobheit, mit Ungestüm, mit Zudringlichkeit zu tun, ihn durch lange Predigten zu ermüden und zu erbittern oder mit ängstlichen Besorgnissen zu erfüllen, wenn seinem Temperamente oder den Umständen nach gar kein Nutzen davon zu erwarten steht.

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Über den Umgang mit Menschen


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Zweites Buch
Siebentes Kapitel: Über den Umgang unter Freunden.
11) Schmeichelei muß unter Freunden wegfallen, nicht aber Gefälligkeit. Man muß den Mut haben, Wahrheit zu sagen und anzuhören.


1) Über die Wahl der Freunde, in der Jugend und im reifern Alter.
2) Inwiefern zur Freundschaft Gleichheit des Alters, des Standes, der Denkungsart und der Fähigkeiten erfordert werde?
3) Warum sehr vornehme und sehr reiche Leute wenig Sinn für Freundschaft haben:
4) Rechne nie auf die dauerhafte Freundschaft solcher Menschen, die von unedlen, heftigen oder torichen Leidenschaften regiert werden!
5) Ob es so schwer sei, treue Freunde zu finden? Wie sie beschaffen sein müssen? Ob man deren viele antreffe?
6) Bestimmung der Grenzen der Anhänglichkeit für einen Freund.
7) Freunde in der Not.
8) Ob man seinen Freunden sein Unglück klagen solle?
9) Was wir tun sollen, wenn uns ein Freund seine Not klagt?
10) Grenzen der Vertraulichkeit.
12) Vorsichtigkeit im Fordern und Annehmen von Freundschaftsdiensten, Wohltaten und Gefälligkeiten.
13) Wie man es anzufangen habe, daß wir unserm Freunde nicht überlästig werden, und daß der öftere, zu vertrauliche Umgang nicht widrige Eindrücke erzeuge? Daß man auch Trennung von geliebten Freunden ertragen lernen müsse.
14) Über den Briefwechsel mit abwesenden Freunden.
15) Über Eifersucht in der Freundschaft.
16) Alles, was Deinem Freunde angehört, sei Dir heilig!
17) Man soll seine Freunde nicht nach der Wärme beurteilen, die sie äußerlich zeigen.
18) Man soll nicht ängstlich um Freunde werben.
19) Es gibt Menschen, die gar keine vertrauten Freunde haben, und andre, die jedermanns Freunde sind.
20) Vorschriften über die Aufführung, wenn Mißverständnisse unter Freunden entstehen.
21) Wie aber, wenn uns Freunde täuschen, verlassen, oder wir uns in unsrer Meinung von ihnen betrogen glauben?
22) Betragen nach dem Bruche mit einem uns würdig befundenen Freunde.

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