21) Wie aber, wenn uns Freunde täuschen, verlassen, oder wir uns in unsrer Meinung von ihnen betrogen glauben?
Wie aber, wenn uns nun Freunde täuschen, wenn wir nach einiger Zeit wahrnehmen, daß unser gutes Herz uns irregeleitet, uns an Menschen gekettet hat, die unsrer nicht wert sind? - Meine Leser! Ich kann es nicht oft genug wiederholen, daß wir mehrenteils selbst daran schuld sind, wenn wir bei näherm Umgange die Menschen anders finden, als wir sie uns anfangs gedacht haben. Parteiische Gefühle, Sympathie, Ähnlichkeit des Geschmacks, der Neigung, feine Schmeichelei, Seelendrang in Augenblicken, wo jeder uns ein Wohltäter scheint, der nur einige Teilnahme an unserm Schicksale zeigt - diese und andre dergleichen Eindrücke lassen uns von den Menschen, denen wir unser Herz schenken, solche Ideale fassen, die nachher unmöglich wahrgemacht werden können. Wir denken sie uns engelrein und sind nachher viel unduldsamer gegen diese unsre Lieblinge als gegen fremde Leute, sobald wir menschliche Schwachheiten an ihnen gewahr werden, indem wir daraus eine Ehrensache für unsre Klugheit machen. Spannet Eure Erwartung, Eure Meinung von Euren Freunden nicht zu hoch, so wird Euch ein menschlicher Fehltritt, den sie in Augenblicken der Versuchung begehen, nicht befremden, nicht ärgern. Habet Nachsicht! Ihr bedürft deren vielleicht selbst bei andern Gelegenheiten. Richtet nicht, damit auch Ihr nicht gerichtet werdet! - Und was für Recht hast Du denn auch über die Moralität Deines Freundes? Was ist er Dir anders schuldig als Treue, Liebe und Dienstfertigkeit? Wer hat Dich zum Sittenrichter über ihn bestellt? - Suche einen vollkommnen Mann auf dieser Erde, und Du kannst hundert Jahre alt werden und noch immer vergebens umherrennen. Vor allen Dingen aber soll man sich hüten, jedem elenden Geschwätze, womit böse oder schwache Menschen zum Nachteile unsrer Freunde unsre Ohren erfüllen, Glauben beizumessen. Leute, die heute mit einem Manne, den sie bis in den Himmel erheben, ihren letzten Bissen teilen würden, und morgen, wenn irgendein altes Weib ihnen ein ärgerliches Märchen aufgehängt hat, denselben zu dem verächtlichsten Betrüger herabwürdigen; Leute, die einen vieljährigen, geprüften Freund, auf Angabe des niederträchtigen, unwürdigen Pöbels, einer ihm schuld gegebenen Schandtat fähig halten können - wäre auch alle Wahrscheinlichkeit auf seiten der Verleumder - solche wankelmütigen, elenden Lumpenseelen verdienen nur Verachtung, und der Verlust ihrer Freundschaft ist barer Gewinst. Der Anschein ist oft sehr trüglich; man kann Veranlassungen haben, es können Notwendigkeiten eintreten, die es uns unmöglich machen, gewisse zweideutig scheinende Schritte zu erläutern; aber daß ein bewährter, edler Mann keine schlechte Handlung begangen habe, davon bedarf es gar weiter keines Beweises als dessen, daß ein edler Mann nie eine schlechte Handlung begeht. |
![]() Auch gut: Der neue Knigge Zweites Buch Siebentes Kapitel: Über den Umgang unter Freunden. 21) Wie aber, wenn uns Freunde täuschen, verlassen, oder wir uns in unsrer Meinung von ihnen betrogen glauben? 1) Über die Wahl der Freunde, in der Jugend und im reifern Alter. 2) Inwiefern zur Freundschaft Gleichheit des Alters, des Standes, der Denkungsart und der Fähigkeiten erfordert werde? 3) Warum sehr vornehme und sehr reiche Leute wenig Sinn für Freundschaft haben: 4) Rechne nie auf die dauerhafte Freundschaft solcher Menschen, die von unedlen, heftigen oder torichen Leidenschaften regiert werden! 5) Ob es so schwer sei, treue Freunde zu finden? Wie sie beschaffen sein müssen? Ob man deren viele antreffe? 6) Bestimmung der Grenzen der Anhänglichkeit für einen Freund. 7) Freunde in der Not. 8) Ob man seinen Freunden sein Unglück klagen solle? 9) Was wir tun sollen, wenn uns ein Freund seine Not klagt? 10) Grenzen der Vertraulichkeit. 11) Schmeichelei muß unter Freunden wegfallen, nicht aber Gefälligkeit. Man muß den Mut haben, Wahrheit zu sagen und anzuhören. 12) Vorsichtigkeit im Fordern und Annehmen von Freundschaftsdiensten, Wohltaten und Gefälligkeiten. 13) Wie man es anzufangen habe, daß wir unserm Freunde nicht überlästig werden, und daß der öftere, zu vertrauliche Umgang nicht widrige Eindrücke erzeuge? Daß man auch Trennung von geliebten Freunden ertragen lernen müsse. 14) Über den Briefwechsel mit abwesenden Freunden. 15) Über Eifersucht in der Freundschaft. 16) Alles, was Deinem Freunde angehört, sei Dir heilig! 17) Man soll seine Freunde nicht nach der Wärme beurteilen, die sie äußerlich zeigen. 18) Man soll nicht ängstlich um Freunde werben. 19) Es gibt Menschen, die gar keine vertrauten Freunde haben, und andre, die jedermanns Freunde sind. 20) Vorschriften über die Aufführung, wenn Mißverständnisse unter Freunden entstehen. 22) Betragen nach dem Bruche mit einem uns würdig befundenen Freunde.
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