1) Der interessanteste Umgang hat wohl unter Menschen von gleichen Jahren statt, doch verrücken Temperament, Erziehung u.dgl. auch hier die Grenzen.

Der Umgang unter Menschen von gleichen Jahren scheint freilich viel Vorzüge und Annehmlichkeiten zu haben. Ähnlichkeit in Denkungsart und wechselseitige Austauschung solcher Ideen, die gleich lebhaft die Aufmerksamkeit erregen, ketten die Menschen aneinander. Jedem Alter sind gewisse Neigungen und leidenschaftliche Triebe eigen. In der Folge der Zeit verändert sich die Stimmung; man rückt nicht so fort mit dem Geschmacke und der Mode; das Herz ist nicht mehr so warm, faßt nicht so leicht Interesse an neuen Gegenständen, Lebhaftigkeit und Phantasie werden herabgestimmt; manche glücklichen Täuschungen sind verschwunden; viel Gegenstände, die uns teuer waren, sind um uns her abgestorben, entwichen, unsern Augen entrückt; die Gefährten unsrer glücklichen Jugend sind fern von uns oder schlummern schon im mütterlichen Schoße; der Jüngling hört die Erzählungen von den Freuden unsrer schönsten Jahre nur aus Gefälligkeit ohne Gähnen zu. Gleiche Erfahrungen geben reichhaltigern Stoff zur Unterhaltung, als wenn das, was ein Mensch erlebt hat, dem andern ganz fremd ist. - Das alles leidet keinen Widerspruch; doch rückt Verschiedenheit der Temperamente, der Erziehung, der Lebensart und der Erfahrungen diese Grenzlinien oft vor und zurück. Viele Menschen bleiben in gewissem Betrachte ewig Kinder, indes andre vor der Zeit Greise werden. Der an Leib und Seele abgenutzte Jüngling, der alle Weltlüste bis zum Ekel geschmeckt hat, findet freilich wenig Genuß im Zirkel junger unschuldiger Landleute, die noch Sinn für einfache Freuden haben, und der alte Biedermann, der nicht weiter als höchstens in einem Umkreise von fünf Meilen sich von seiner Heimat entfernt hat, ist unter einem Haufen erfahrner und belebter Residenzbewohner, mit ihm von gleichem Alter, ebensowenig an seinem Platze als ein betagter Kapuziner in einer Gesellschaft von alten Gelehrten. Dagegen aber binden auch manche Neigungen, zum Beispiel die noblen Passionen der Jagd, des Spiels, der Medisance und des Trunks, vielfältig Greise, Jünglinge und alte Weiber recht herzlich aneinander. Diese Ausnahme von jener allgemeinen Bemerkung, von der Bemerkung: daß der Umgang unter Leuten von gleichen Jahren viel Vorzüge hat, kann indessen die Vorschriften nicht unkräftig machen, die ich jetzt über das Betragen der Menschen von verschiednem Alter gegeneinander geben werde; nur muß ich noch eine Anmerkung hinzufügen. Es ist nicht gut, wenn eine zu bestimmte Absonderung unter Personen von verschiedenem Alter stattfindet, wie zum Beispiel in Bern, wo fast jedes Stufenjahr seine eigenen, angewiesenen gesellschaftlichen Zirkel hat, so daß, wer vierzig Jahre alt ist, anständigerweise nicht mit einem Jüngling von fünfundzwanzig Jahren umgehn kann. Die Nachteile eines solchen konventionellen Gesetzes sind wohl nicht schwer einzusehn. Der Ton, den die Jugend annimmt, wenn sie immer sich selbst überlassen ist, pflegt nicht der sittlichste zu sein; manche gute Einwirkung wird verhindert, und alte Leute bestärken sich im Egoismus, Mangel an Duldung, an Toleranz und werden mürrische Hausväter, wenn sie keine andern als solche Menschen um sich sehen, die mit ihnen gemeinschaftliche Sache machen, sobald von Lobeserhebung alter Zeiten und Heruntersetzung der gegenwärtigen, deren Ton sie nie kennenlernen, die Rede ist.

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Über den Umgang mit Menschen


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Zweites Buch
Erstes Kapitel: Von dem Umgange unter Personen von verschiedenem Alter.
1) Der interessanteste Umgang hat wohl unter Menschen von gleichen Jahren statt, doch verrücken Temperament, Erziehung u.dgl. auch hier die Grenzen.


2) Alte Leuten sollen die Freuden der jüngeren nicht stören, sondern so viel möglich sich in die frühern Jahre zurückdenken.
3) Sie sollen aber nicht auf eine lächerliche Art jung scheinen wollen.
4) Ihr Umgang muß der Jugend lehrreich sein.
5) Es ist nicht mehr Mode, ältern Leuten Achtung zu beweisen; die heutige Generation ist weit klüger als die Väter waren; der Verfasser gehört aber noch zur alten Welt.
6) Regeln, wie sich Jünglinge gegen alte Leute betragen sollen.
7) Über den Umgang mit Kindern.

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