3) Will oder muß man aber in der großen Welt auf immer oder auf einige Zeit leben, ohne den Ton derselben annehmen zu können, so gibt es doch Mittel, sich geachtet zu machen. Welche sind diese?

Muß oder will man aber in der großen Welt leben, und man ist nicht ganz sicher, den Ton derselben annehmen zu können, so bleibe man lieber der Art von Stimmung und Wendung treu, die uns Natur und Erziehung gegeben haben. Nichts kann abgeschmackter sein, als wenn man jene Sitten halb und unvollständig kopiert, wenn der ehrliche Landmann, der schlichte Bürger, der grade, deutsche Biedermann den französischen petit Maître, den Hofmann, den Politiker spielen will, wenn Leute, die einer ausländischen Sprache nicht mächtig sind, alle Gelegenheit aufsuchen, mit fremden Zungen zu reden, oder, wenn sie auch in ihrer Jugend an Höfen gelebt haben, nicht merken, daß die galante Sprache aus Ludwig des Vierzehnten Zeiten jetzt gar nicht mehr im Umlaufe ist und eine Stutzergarderobe aus dem vorigen Jahrhundert im Jahr 1790 nur auf dem komischen Theater Wirkung tut. Solche Menschen machen sich mutwilligerweise zum Gespötte, da man hingegen mit einem ungezwungenen, natürlichen und verständigen Betragen, Anstande und Anzuge, wenn dies alles auch nicht nach dem feinsten Hofschnitte ist, sich mitten unter dem leichtfertigen Gesindel Achtung und, wo nicht ein angenehmes, doch ein ruhiges, ungekränktes Leben verschaffen kann. Sei also einfach in Deiner Kleidung und in Deinen Manieren, ehrlicher Biedermann. Sei ernsthaft, bescheiden, höflich, ruhig, wahrhaftig. Rede nicht zuviel und nie von Dingen, wovon Du nichts weißt, noch in einer Sprache, die Dir nicht geläufig ist, insofern der, welcher mit Dir spricht, Deine Muttersprache versteht. Betrage Dich mit Würde und Gradheit, ohne grob zu sein, ohne Ungeschliffenheit, so wird man Dich ungeneckt lassen. Allein freilich wirst Du auch nicht sehr vorgezogen, Dein Gesicht wird kein Modegesicht werden. Hierüber aber beruhige Dich. Zeige Dich nicht verlegen, ängstlich, wenn in einer großen Gesellschaft kein Mensch mit Dir redet. Du verlierst nichts dabei, kannst für Dich an allerlei gute Dinge denken, auch manche nützliche Bemerkung machen, und man wird Dich nicht verachten, sondern vielleicht gar fürchten, ohne Dich zu hassen, und das ist denn doch zuweilen so übel nicht.

Leute, die in der Jugend an Höfen und in großen Städten keine unbeträchtliche Rolle gespielt, die vielmehr dort geglänzt, nachher aber sich zurückgezogen, sich einer einfachern Lebensart gewidmet haben, vergessen gar zu leicht, daß, um hier immer ein Modegesicht zu bleiben, man nie den Faden der herrschenden Konversation aus der Hand verlieren, nie versäumen darf, auch in den kleinsten Fortschritten, der Kultur - wenn man das Kultur nennen muß - nachzufolgen. Das ist aber bei der unbeschreiblichen Veränderlichkeit des Geschmacks und der Phantasie unmöglich, sobald man nicht immer mit der ganzen Flotte auf dem großen Weltmeere herumschwimmt. Es geschieht dann, daß wir böser Laune werden, wenn wir sehen, daß man uns vernachlässigt, daß jüngere, oft sehr unbedeutende Menschen jetzt die Koryphäen sind, daß diese und deren Bewunderer uns über die Achsel ansehn, uns nur aus nachsichtiger Höflichkeit einige Aufmerksamkeit beweisen - oh, es ist unglaublich, wie so etwas die Gemütsruhe auch des klugen Mannes (denn selbst kluge Leute sind nicht immer ganz von Eitelkeit frei) erschüttern, wie es verstimmen und bewirken kann, daß man sich in recht unangenehmer Haltung zeigt und, wenn man etwas zu suchen hat, die Frucht einer weiten Reise und große Unkosten verliert, dahingegen unser Witz, unsre Laune unaufhaltsam und bezaubernd fortströmen, wo wir uns geehrt, geliebt und mit Aufmerksamkeit behandelt wissen. Wer sich viel Jahre hindurch an großen und kleinen Höfen und sonst in der großen Welt hat umhertreiben müssen, der wird nie in Verlegenheit von jener Art kommen können. Er wird die Fertigkeit erlangt haben, sich geschwind zu orientieren, schnell zu fassen, welche Sprache anwendbar ist; die guten Leute hingegen, die nicht Gelegenheit gefunden haben, diesen Grad von Verfeinerung zu erlangen, sollen wohl beherzigen, was zu Anfange dieses Abschnitts ist gesagt worden.

Hinter die Ohren schreiben >>
Über den Umgang mit Menschen

cover
Auch gut: Der neue Knigge

Drittes Buch
Über den Umgang mit Hofleuten und ihresgleichen.
3) Will oder muß man aber in der großen Welt auf immer oder auf einige Zeit leben, ohne den Ton derselben annehmen zu können, so gibt es doch Mittel, sich geachtet zu machen. Welche sind diese?


1) Hierher gehören die Bemerkungen über den Umgang mit Leuten, die in der sogenannten großen Welt leben, überhaupt. Bild der dort herrschenden Sitten.
2) Wer da kann, der bleibe fern von Höfen und großen Zirkeln! Und das steht öfter in unsrer Gewalt, als man gemeiniglich glaubt.
4) Lebt man endlich immer in der großen Welt, so soll man sich in derselben nicht auszeichnen.
5) Wie weit man in Nachahmung der Hofsitten gehen dürfe?
6) Etwas über den heutigen Hofton junger Leute.
7) Verachte nicht alles, was bloß konventionellen Wert bat!
8) Der beßre Mann wird in der großen Welt nicht leicht unangetastet bleiben. Betragen dabei.
9) Sei in der großen Welt zuversichtlich frei und mache Dich gelten, doch ohne Unverschämtheit und Prahlerei!
10) Man messe sein Betragen gegen Hofleute pünktlich nach dem ihrigen gegen uns ab! Über Klatschereien.
11) Man sei höflich gegen sie, mache sich aber fürchten, setze sich in Ansehn und Würde und sage ihnen nach Gelegenheit die Wahrheit!
12) Noch einige Vorsichtigkeitsregeln über Vertraulichkeit und Offenherzigkeit!
13) Wieviel größre Vorsicht noch derjenige beobachten müsse, welcher nicht bloß in der großen Welt leben, sondern auch in derselben wirksam sein will?
14) Wozu das Leben in der großen Welt nützen könne?

Besuchen Sie auch unsere Seite www.rilke.de!