11) Ob man Geheimnisse voreinander haben dürfe?

In der Ehe soll gegenseitiges uneingeschränktes Zutraun, soll Offenherzigkeit stattfinden. Kann denn aber gar kein Fall eintreten, wo einer vor dem andern Geheimnisse bewahren dürfte? O ja, gewiß! Freilich, da der Mann von der Natur bestimmt ist, der Ratgeber seines Weibes, das Haupt der Familie zu sein; da die Folgen jedes übereilten Schrittes der Gattin auf ihn fallen; da der Staat sich nur an ihn hält; da die Frau eigentlich gar keine Person in der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht; da die Verletzung der Pflichten von ihrer Seite schwer auf ihm liegt und diese Verletzung die Familie weit unmittelbarer beschimpft und derselben Schande und Nachteil bringt als die Ausschweifungen des Mannes dies tun; da sie viel mehr von dem äußern Rufe abhängt als er; endlich da Verschwiegenheit mehr eine männliche als weibliche Tugend ist, so kann es wohl seltner gut sein, wenn die Frau ohne ihres Mannes Wissen Schritte unternimmt und dieselben vor ihm verheimlicht. Er hingegen, der an den Staat geknüpft ist, oft Geheimnisse zu bewahren hat, die nicht ihm gehören, und durch deren Verbreitung er mit andern in Verlegenheit kommen kann, er, der das ganze seines Hauswesens übersehn soll, auch vielfältig den Plan, nach welchem er handelt, nicht den schwächern Einsichten unterwerfen darf, sondern fest und unerschütterlich seinem Verstande und Herzen folgen und das Urteil des Volks verachten muß; er kann unmöglich immer so alles erzählen und mitteilen. Verschiedenheit der Lagen aber kann diesen Gesichtspunkt verrücken. Es gibt Männer, die sehr übel fahren würden, wenn sie einen einzigen Schritt ohne Rat und Wissen ihrer Weiber täten; es gibt sehr plauderhafte Herrn und sehr verschwiegne Damen. Eine Frau kann weibliche Geheimnisse von einer Freundin anvertrauet bekommen haben - in allen diesen und ähnlichen Fällen müssen Klugheit und Redlichkeit das Verhalten beider Teile bestimmen. Das aber bleibt eine heilige Regel, daß, wenn wahrhaftes Mißtrauen sich einschleicht, wenn man Offenherzigkeit erzwingen muß, alles Glück der Ehe entflieht. Nichts kann endlich schändlicher, niederträchtiger sein, als wenn der Mann pöbelhaft genug denkt, heimlich Briefe seiner Frau zu erbrechen, ihre Papiere zu durchwühlen oder ihre Schränke zu durchsuchen. Auch verfehlt er mit solchen unwürdigen Mitteln immer seines Zwecks. Nichts ist leichter, als die Wachsamkeit eines Menschen zu hintergehn, wenn es bloß auf beweisbare Vergehen ankommt, und man die feinern Bande zerrissen, die Verlegenheiten der Delikatesse und des Zutrauens gehoben hat; ein Mann, der einmal seine Frau eine Ehebrecherin nennt, steckt sich selbst das Horn der Hahnreischaft auf; nichts ist leichter, als einen Menschen zu hintergehn, den man genau kennt, bei dem man allen Glauben verloren hat, den man oft auf falschem Argwohn ertappen kann, weil Leidenschaft ihn blind macht, und der durch Mißtrauen verdient hat, getäuscht zu werden - Betrug ist fast immer die sichre Folge davon, und man kann auf diese Weise das edelste Geschöpf moralisch zugrunde richten und zu Verbrechen reizen.

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Über den Umgang mit Menschen


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Zweites Buch
Drittes Kapitel: Von dem Umgange unter Eheleuten.
11) Ob man Geheimnisse voreinander haben dürfe?


1) Gute Wahl der Gatten ist das sicherste Mittel zu künftigem Eheglücke, und das Gegenteil hat traurige Folgen.
2) Warum so manche in der Jugend mit sehr wenig Überlegung geschlossene Ehen dennoch glücklich ausfallen?
3) Ob vollkommene Gleichheit in Temperamenten und Denkungsart zu einer glücklichen Ehe notwendig sei?
4) Vorschriften, welche man beobachten soll, um sich einander immer neu, angenehm und wert zu bleiben.
5) Hauptregel: Erfülle sorgsam jede Deiner Pflichten!
6) Wie wir uns zu verhalten haben, wenn die liebenswürdigen Eigenschaften fremder Personen zu lebhafte Eindrücke auf unsre Ehegenossen machen.
7) Wie man sich gegen solche Eindrücke wappnen solle, besonders gegen die feinern Koketten; in der Jugend; im reifern Alter.
8) Eheliche Pflicht schließt aber nicht alle zärtlichen Empfindungen für andre Personen aus.
9) Man soll voneinander auch nicht Aufopferung alles eigenen Geschmacks, aller andern unschuldigen Neigungen verlangen, sich aber nach und nach in gleiche Stimmung zu setzen suchen.
10) Wie man wirkliche Ausschweifungen vermeiden solle?
12) Jeder Ehegenosse soll seine angewiesenen Geschäfte haben.
13) Wie es mit Verwaltung der Kassen zu halten?
14) Wie aber, wenn ein Teil die Verschwendung liebt? Häusliche Sparsamkeit ist ein Mittel zum Eheglücke.
15) Ist es besser, daß der Mann oder daß die Frau reich sei? Ersteres! warum? Betragen gegen eine reiche Frau.
16) Ist es besser, daß der Mann klüger sei als das Weib, oder umgekehrt?
17) Oh man seiner Gattin sein Unglück klagen dürfe? Verhalten in wirklichen Unglücksfallen.
18) Betragen bei gar zu großer Ungleichheit der Denkungsart.
19) Wie man sich verhalten solle, wenn das Schicksal uns mit einer unmoralischen lasterhaften Person auf ewig verbunden hat.
20) Leide nicht, daß Fremde sich in Deine häuslichen Geschäfte mischen! Etwas über böse alte Schwiegermütter.
21) Über Verletzung ehelicher Treue und Ehescheidung.
22) Ob diese Regeln auch anwendbar auf die Ehen unter sehr vornehmen und sehr reichen Leuten sind.

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