9) Man soll voneinander auch nicht Aufopferung alles eigenen Geschmacks, aller andern unschuldigen Neigungen verlangen, sich aber nach und nach in gleiche Stimmung zu setzen suchen.

Die Wahl aber dieser Freunde muß dem Herzen, sowie die Wahl sittlicher Vergnügungen und unschuldiger Liebhabereien dem Geschmacke eines jeden überlassen bleiben. Ich habe oben gesagt, daß ich glaube, es werde nicht durchaus Gleichheit von Neigungen, Temperamenten und Geschmack zum Eheglück gefordert. Unerträgliche Sklaverei wäre es daher, sich dergleichen aufdrängen lassen zu müssen. Es ist wahrlich schon hart genug, wenn man die Freude entbehren soll, edle Empfindungen, erhabene Gedanken, feinere Eindrücke, welche seelenerhebende Bücher, schöne Künste und dergleichen auf uns machen, mit der Gefährtin unsers Lebens teilen zu können, weil die stumpfen Organe derselben dafür nicht empfänglich sind; aber nun gar diesem allen entsagen oder sich in der Wahl seines Umgangs und seiner Freunde nach den abgeschmackten, gefühllosen Grillen eines schiefen Kopfs und kalten Herzens richten, allen wohltätigen Erquickungen von der Art entsagen zu müssen - das ist Höllenpein; und ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß am wenigsten der Mann, der doch von der Natur und bürgerlichen Verfassung bestimmt ist, das Haupt, der Regent der Familie zu sein, und der oft Gründe haben kann, warum er diesen oder jenen Umgang wählt, dieser oder jener Beschäftigung sich widmet, diesen oder jenen Schritt tut, der manchen auffallend sein kann, daß dieser wohl am wenigsten auf solche Weise sich wird einschränken lassen. Es erleichtert hingegen das Leben unter Menschen, die nun einmal verbunden sind, alle Leiden und Freuden gemeinschaftlich zu tragen, wenn man nach und nach seine Neigungen, seinen Geschmack gleich zu stimmen, wenn der eine Sinn für das zu bekommen sucht, was der andre liebt und gern sieht, besonders wenn dies wirklich groß, erhaben und edel ist, und es zeugt wahrlich von fast viehischer Dummheit oder von der verächtlichsten Indolenz, wo nicht von dem bösesten Willen, wenn man nach vieljähriger Verbindung mit einem verständigen, gebildeten, feinfühlenden, liebevollen Geschöpfe noch ebenso unwissend, roh, stumpf und starrköpfig geblieben ist, als man vorher war. Wenn dann der erste Rausch der Liebe vorüber ist, und dem leidenden Teile gehen die Augen auf über das, was der Ehegatte ihm sein könnte, sein sollte, sein müßte, was andre ihm gewesen sein würden, oder sind - dann gute Nacht, Ruhe, Frieden, Glück! Zärtlichkeit und Hochachtung hingegen werden bei vernünftigen Personen jene Gleichstimmung leicht bewirken, wenn nicht störrischer Eigensinn oder empörende Ungleichheit in Denkungsart die Trennung unterhalten.

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Über den Umgang mit Menschen


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Zweites Buch
Drittes Kapitel: Von dem Umgange unter Eheleuten.
9) Man soll voneinander auch nicht Aufopferung alles eigenen Geschmacks, aller andern unschuldigen Neigungen verlangen, sich aber nach und nach in gleiche Stimmung zu setzen suchen.


1) Gute Wahl der Gatten ist das sicherste Mittel zu künftigem Eheglücke, und das Gegenteil hat traurige Folgen.
2) Warum so manche in der Jugend mit sehr wenig Überlegung geschlossene Ehen dennoch glücklich ausfallen?
3) Ob vollkommene Gleichheit in Temperamenten und Denkungsart zu einer glücklichen Ehe notwendig sei?
4) Vorschriften, welche man beobachten soll, um sich einander immer neu, angenehm und wert zu bleiben.
5) Hauptregel: Erfülle sorgsam jede Deiner Pflichten!
6) Wie wir uns zu verhalten haben, wenn die liebenswürdigen Eigenschaften fremder Personen zu lebhafte Eindrücke auf unsre Ehegenossen machen.
7) Wie man sich gegen solche Eindrücke wappnen solle, besonders gegen die feinern Koketten; in der Jugend; im reifern Alter.
8) Eheliche Pflicht schließt aber nicht alle zärtlichen Empfindungen für andre Personen aus.
10) Wie man wirkliche Ausschweifungen vermeiden solle?
11) Ob man Geheimnisse voreinander haben dürfe?
12) Jeder Ehegenosse soll seine angewiesenen Geschäfte haben.
13) Wie es mit Verwaltung der Kassen zu halten?
14) Wie aber, wenn ein Teil die Verschwendung liebt? Häusliche Sparsamkeit ist ein Mittel zum Eheglücke.
15) Ist es besser, daß der Mann oder daß die Frau reich sei? Ersteres! warum? Betragen gegen eine reiche Frau.
16) Ist es besser, daß der Mann klüger sei als das Weib, oder umgekehrt?
17) Oh man seiner Gattin sein Unglück klagen dürfe? Verhalten in wirklichen Unglücksfallen.
18) Betragen bei gar zu großer Ungleichheit der Denkungsart.
19) Wie man sich verhalten solle, wenn das Schicksal uns mit einer unmoralischen lasterhaften Person auf ewig verbunden hat.
20) Leide nicht, daß Fremde sich in Deine häuslichen Geschäfte mischen! Etwas über böse alte Schwiegermütter.
21) Über Verletzung ehelicher Treue und Ehescheidung.
22) Ob diese Regeln auch anwendbar auf die Ehen unter sehr vornehmen und sehr reichen Leuten sind.

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